Führung auf Distanz – die Fähigkeit, Nähe leben zu können, als kritische Führungsqualität
In der Wirtschaft zeigt sich angesichts der grassierenden Coronavirus-Pandemie, dass Führungskräfte zunehmend unter Druck geraten. In meiner Beratungspraxis erlebe ich die Herausforderungen von Führungskräften in einer ungewohnt komplexen Situation, die sich durch unterschiedliche Grade der Digitalisierung noch verkompliziert. Eines scheint mir insbesondere nach der letzten Woche sicher: Egal, wie wir jetzt auf die Coronakrise reagieren, es wird weh tun. Unternehmen werden wirtschaftlich leiden, die Mitarbeitenden auch. Was bedeuten die aktuellen Entwicklungen für Mensch und Führung?
In der aktuell sehr unübersichtlichen Lage bleiben für viele Menschen Teile ihrer psychologischen Grundbedürfnisse unerfüllt. Ich kann nicht selbst entscheiden, ob ich zu meinem gut eingerichteten Arbeitsplatz und den mir vertrauten Kollegen und Kolleginnen fahre. Möglicherweise kann ich im Moment auch nicht selbst entscheiden, welchen Themen ich mich widme. Ich kann mich mit meinen Kollegen und Kolleginnen nicht mehr wie gewohnt austauschen. Meine Arbeit wird nicht mehr wie bisher von anderen gesehen, kommentiert, verbessert, gelobt. Womöglich fällt es mir im Home-Office schwerer, ins Tun zu kommen. Die meisten haben Kinder, die betreut werden müssen, oder Angehörige, um die sie sich sorgen, weil sie zu einer Risikogruppe gehören. Nicht wenige haben schlicht Angst um sich selbst und um ihren Job. Viele Menschen plagen in diesen Tagen Sorgen, die auch den Weg an den improvisierten Schreibtisch im Wohnzimmer finden. All jene Menschen werden sich nach Führungsstärke sehnen.
Bindung schafft Loyalität
Es mag die Verlockung bestehen, diese Situation im klassischen Stil anzugehen: Die direktive Zuweisung von Aufgaben, also von oben nach unten, schafft größtmögliche Kontrolle für die Chefs und eindeutige Strukturen für die Mitarbeitenden. Man könnte daher meinen, es sei das Comeback des längst überholten Modells der administrativen Macher. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Das wird die Coronakrise zeigen.
Was klar ist: Wer bis jetzt nicht die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für dezentrales Arbeiten geschaffen hat, der wird bereits an dieser Hürde scheitern. Es braucht in dieser Situation, wie wir sie alle noch nicht erlebt haben, aber noch eine weitere Kompetenz. Führung hat in Zeiten wie dieser die Aufgabe, Räume zu schaffen, wo Menschen mit ihren Gefühlen nicht alleine bleiben.
Es wird Mitarbeitende geben, die sich in der neuen Situation gut zurechtfinden. Aber es wird auch jene geben, die damit Probleme bekommen. Hier ist Führung, und zwar vor allem Kontakt auf Distanz gefragt. Kontaktkompetenz ist Teil der Lösung der aktuellen Herausforderung. Es geht aktuell viel um die Distanz („social distancing“) und die Reduktion von Kontakten. Dabei ist es aus Sicht von Führung vor allem entscheidend, trotz des „physical distancing “ im sozialen Kontakt zu sein und zu bleiben. Hierfür bieten sich virtuelle Teamrunden und Einzelgespräche mithilfe verschiedener Online-Tools an.
Aktuell ist der Ort, an dem wir arbeiten, ein anderer. Hierdurch ändern sich die Bedingungen, in denen wir alle arbeiten, radikal. Führung ist sicher nicht dafür verantwortlich, die negativen Gefühle der Mitarbeitenden aufzufangen. Führungskräfte sind dennoch mehr denn je gefordert, ihr Führungsverhalten im Hinblick auf den Faktor Bindung zu reflektieren. Empathie und Wärme festigen in der Krise sowohl die Einflussnahme, als auch die Beziehungsqualitäten. Wer seinen Mitarbeitenden trotz der physischen Distanz nahe bleibt, schafft Sicherheit und Loyalität. Vorgesetzte, die sich emotional zeigen, wurden in der Vergangenheit noch allzu oft als schwach verurteilt. In den neuen Zeiten werden Bindung und Nähe das Engagement und die Krisenfestigkeit eines Teams ganz besonders fördern.
Foto von Alejandro Escamilla auf Unsplash